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In einer Personalakte erfahren wir nichts über das Geheimnis eines Menschen, seine stille Würde und seine Einzigartigkeit als "Ebenbild Gottes". Alle Leistungen und Erfolge, Verfehlungen und Verhaltensauffälligkeiten, Sündenregister und Misserfolge verraten nichts über die wahren Beweggründe der Herzen. Als Gläubige schauen wir auch nicht primär in Personalakten, sondern auf zu Gott, wenn es um unser Innerstes geht. Ich bete zu ihm: Gott, du kennst mich, du weißt von mir, du bist vertraut mit all meinen Wegen (Ps 139). Auch mit meinen Selbsttäuschungen, mit meinen kleinen und großen Illusionen bin ich in seinem "Buch des Lebens" verzeichnet.
Seit Abrahams Zeiten leben Gläubige "vor dem Angesicht Gottes", in seinem Lichte und mit dem Anspruch seiner Weisungen. Ihnen korrespondiert ein innerer Seismograph, Gewissen genannt. Dem Ruf Gottes in der Tiefe unseres Herzens sind wir absolut verpflichtet.
Staatliche Regeln können nur relativ verbindlich sein. Deshalb hat auch ein Verkehrssünder im religiös-gläubigen Sinne kein "schlechtes Gewissen". Er ist höchstens verärgert, weil er erwischt wurde, schämt sich vielleicht wegen seines Imageschadens (Führerscheinentzug), oder es tut ihm leid, was er angerichtet hat. Bei einem Unfall mit Todesfolge gerät mancher "Sünder" in eine "andere Dimension".
Das Strafrecht allein reicht nicht aus, um wieder ins Lot zu bringen, was durch uns aus den Fugen geraten ist, auch nicht, sich zu "entschuldigen" oder gar zu "sühnen", wie es früher einmal hieß. Geht es doch hier nicht um Bagatellen, die man bereinigen könnte, wie wenn ein Schuldenberater "am Ende" nur die Verträge etwas "nachbessern" müsste, um einen Schuldner von seiner Last zu befreien.
Gläubige sehen sich in allem, was sie tun oder unterlassen "im Lichte Gottes". So hat Rembrandt sie sehr oft eindrucksvoll gemalt.
Gott stellt keine Fragen. Er weiß. Ihm brauchen wir nicht zu erzählen, wie gut wir sind, oder zu erklären, warum wir es nicht waren. Vor ihm kommt das wahre Gesicht unseres Lebens zum Vorschein – jetzt schon, je mehr wir uns ihm aussetzen, nicht erst bei der letzten Begegnung am Ende, wenn er das im Dunkeln verborgene ans Licht bringen und die Absichten der Herzen aufdecken wird (1 Kor 4,5). Es wird uns bewusst, dass wir eine Zeitlang unter falschem Himmel gewohnt haben, ohne Platz für ein Gott-Denken und Gott-Danken in unserem "nur von Menschenhand gemachten" Haus. Oder: Machtmissbrauch bei kleinen und großen Machthabern, wo immer wir zuständig waren mit dem Recht des Stärkeren. Oder: Die Herrschaft des Experten ohne Güte und Barmherzigkeit, nur nach Recht und Ordnung.
Das Wort Sündenschuld hat heute auch bei routinierten Gewohnheitschristen an Randschärfe verloren. Spötter fragen: "Kann denn Sünde Sünde sein?" Gottverbundene wissen es, aber auch sie sind häufig irritiert. Es gibt viele Erklärungen aus Psychologie und Gesellschaftslehre, die zunächst entlastend wirken. Es heißt: Nicht "das kleine Ich", sondern Prägungen, Strukturen, Erziehungsstile machen uns "unfrei". Das Böse ist um uns und in uns. Ich bin nicht allein schuldig bzw. verantwortlich.
Oft keine Spur von tieferer Erschütterung, höchstens ein dumpfes Gefühl von Fehltritt und Ungenügen. Kaum ein Bewusstsein persönlich totaler Verkehrtheit angesichts schwerer Vergehen, die man ja "erklären" kann. Opfer, nicht Täter! Opfer der Verhältnisse, der Anderen! Alles ist möglich. Und was möglich ist, kommt vor.
Das Unrechtsgefühl versandet. "Wo sich das Bild des wartenden Vaters (siehe Gleichnis) verdunkelt, wird das Bewusstsein der Sünde mit verdämmern", sagt Hans Urs von Balthasar. Papst Benedikt schreibt zur Fastenzeit 2010: "Die Ungerechtigkeit, die aus dem Bösen hervorgeht, hat nicht nur einen äußeren Ursprung. Sie gründet im Herzen des Menschen, wo sich die Keime für ein geheimnisvolles Übereinkommen mit dem Bösen finden lassen."
So klingt auch ein Psalmwort wie aus einer anderen Zeit: Meine Sünden schlagen mir über dem Kopf zusammen, sie erdrücken mich wie eine schwere Last (38,5). Jedoch: Wo kein Gott, da keine Sünde. Wo kein Sünderbewusstsein, da drückt auch nichts. Wozu dann Vergebung?
Wir sind auch innerhalb der Kirche heute weit entfernt von übertriebenen und krankhaften Sündenängsten vergangener Zeiten, ebenso von einer gesunden Bußkultur, die Einzelschuld ernstnimm:
Lebensgeschichtliche Ablagerungen in unserer Seelentiefe sind nicht zu leugnen. Träume verraten vieles. Ebenso unerklärliche Reaktionen, besondere Empfindlichkeiten und manchmal überzogene Aggressionen.
Schuld entlädt sich hin und wieder, auch seltsam entstellt – als krasse Provokation, als ständige Verteidiger- und Abwehrhaltung, als Rücksichtslosigkeit und Zerstörungswut. Alltäglich gibt es Schuldzuweisungen "nach außen". Sündenböcke lenken von uns ab und entlasten. Wir stellen andere an den Pranger oder machen sie verantwortlich. Medien liefern uns bereitwillig den Heuchler der Woche, den Versager des Monats oder die Sünderin des Jahres.
Wohin mit echten Schuldgefühlen – in einer Welt ohne Gott? Schuldgefühle, die uns niemand ausreden kann, nicht wegerklären und nicht zerreden, aber auch nicht einreden kann. Schuldenberater weisen darauf hin: Jeder kann heute an den Punkt geraten, wo es nicht mehr weitergeht. Ausweglos überschuldet sein, Gehalt gepfändet, Konto gesperrt, Arbeitsplatz und Lebenspartner verloren – aus eigener Schuld und schicksalhaft!
Gibt es Ähnliches für den inneren Haushalt eines Menschen? Wege aus der Krise durch "Schuldberatung"? Das kirchliche "Angebot" heißt Beichtgespräch und Vergebung. Andererseits: Der Durchschnittssünder sieht sich nicht gleich am Abgrund. Er möchte auch nicht ständig den Spiegel vorgehalten bekommen oder ohne Not mit seiner Vergangenheit konfrontiert werden. Daher und aus biographisch-historischen Gründen unter anderem die Distanz zur Beichte.
Wenn aber "Schuld wirkt", den Lebensalltag durchwirkt und vielerlei Beziehungen stört, wird Leben behindert. Schuld verstärkt auch die eigene Verblendung und das System der Selbstrechtfertigungen. Schuld lässt nicht in Ruhe. Niemand kann sich selbst freisprechen. Deshalb die Gebetsbitte an Gott: Vergib uns unsere Schuld!
Ein Gott, der "dich krönt mit Gnade und Erbarmen" (Ps 103,4) hat im Selbstbild vieler Zeitgenossen wenig Platz. Vor allem, wenn noch der alte Aufpassergott vor Augen steht und Vergebung wie der Hulderweis einer mittelalterlichen Herrschergestalt gesehen wird.
Dagegen stehen die Leitsätze moderner "Credos": Mut zum Leben aus eigener Kraft, auch zu seinen Schwächen, seinem Scheitern und seiner Schuld stehen. Vergib dir selbst! Alles positiv in sein Leben integrieren und als Signal oder Chance begreifen. Authentisch und autonom sein. Das gilt allerdings für Verbrecher und Heilige in gleichem Maße. Auch "Bösewichte" können authentisch sein. "Sie haben Gott nicht vor Augen" (oder. "Sie halten sich Gott nicht entgegen"), sagt dagegen die Schrift (Ps 54,5). Für Gläubige war es immer entscheidend, vor Gott "richtig“ dazustehen, "richtig" zu sein: gerecht!
In diesem Bewusstsein kommt der "verlorene Sohn" zu sich, geht in sich, kehrt um und geht heim zu seinem Vater. Alle Umkehr ist Heimkehr, sagt die Bibel: Heimkehr zu Gott.
"Vater, ich habe gesündigt vor dem Himmel und vor dir!" (Lk 15,21). Sünde betrifft immer die Vertikale und Horizontale unseres Daseins: Gott und das Miteinander. Heilige, die eine besondere Nähe zu Gott hatten, empfanden sich in seinem Lichte stets als große Sünder.
Martin Luther formulierte unsere Grundverfassung: Gerechte und Sünder zugleich! Oder: Von Gott angenommen und "richtig gemacht" und doch in allem immer wieder egofixiert, selbstbezogen und selbstverliebt. In allem, also auch in guten Taten, eine Dosis Ego?
Sünde ist eine Herzensangelegenheit des aufrichtigen Gläubigen, Vergebung eine Herzensangelegenheit des barmherzigen Gottes, wie ihn Jesus verkündigte. Er empfiehlt uns, inständig um diese Vergebung zu bitten.
Sie heilt unser gestörtes Verhältnis zu Gott, zu anderen und zu uns selbst. Sünde ist mehr als ein Regelverstoß oder eine bloße Gesetzesübertretung. Sie ist eine Kernstörung unseres Lebens und insofern nie eine Bagatelle oder Kleinigkeit. Die Gebote dienen als Leitplanken, die uns zum richtigen Leben verhelfen sollen.
Dieses Ziel verfehlen wir in dem Maße, wie wir uns dem göttlichen Leitziel verweigern, "mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit allen Gedanken und aller Kraft zu lieben" (Mk 12,36). Und schon kommen Einwände auf unserer Seite: Wie sollen wir das können unter den Bedingungen unseres Lebens? Mit unseren seelischen Voraussetzungen und in den Verhältnissen, in denen wir leben (müssen)? Paulus antwortete als Diener Gottes: "Meine Gnade genügt dir!" Und: "Jeder nach dem Maß der ihm verliehenen Kraft!"
Sündenvergebung war stets das zentrale "Heilsangebot" Gottes und der Reich-Gottes-Praxis Jesu. Die frühe Kirche bekannte: "Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden" (Kol 1,14). Sie ist auch sein erstes Ostergeschenk an die Jünger. Schon Zacharias hatte prophezeit: "Du wirst sein Volk mit der Erfahrung des Heils beschenken in der Vergebung der Sünden" (Lk 1,77).
Mit jedem "Herr, erbarme dich" bekennen sich Christen zu ihrer Erlösungsbedürfigkeit und bitten Gott um Vergebung.
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Text: Dr. Hermann-Josef Silberberg
Foto: Anselm Thissen